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Carlo, San Borondón

Der Fischberg


              

Der Fischberg, dritter Tag

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit anderen Berichten oder Erzählungen ist rein zufällig. Gleiches gilt für die verwendeten Namen, Bezeichnungen, Techniken und geografischen Orte

Während der Nacht hatten wir das letzte Wasser getrunken. "Du musst wach bleiben!" Gregorio hatte meinen Kopf gepackt und schüttelte mich durch. "Wenn du nicht wach bleibst, hörst du auf zu atmen! Du machst das nicht noch einmal, verstehst du das! Du hast die Pflicht, auf mich zu achten, wir dürfen nicht aufgeben! Wir überleben das hier zusammen oder keiner von uns überlebt. Reiß dich jetzt zusammen!" Die Worte drangen nur schwer in mein Bewusstsein. Ich entsinne mich, dass Gregorio redete, hustete und redete während er auf mich einschlug, und dann sackte er erschöpft zur Seite. Ich war wohl ziemlich weit weg gewesen, und er hatte gemerkt, dass ich nicht mehr atmen wollte. Und jetzt, in diesem Augenblick des Erwachens überfiel mich auch eine Panik und nun trommelte ich hustend auf ihn ein: "Gregorio, was redest du nur, ich bin's, Antonio, du darfst mich jetzt nicht verlassen, Gregorio!" - "Hast Du noch Wasser!?" Flüsterte er. Gregorio fragte mich nach Wasser, wo sollte ich Wasser herbekommen. "Wir haben kein Wasser mehr!"

An das Deckshaus gelehnt lauschten wir in das Lärmen der Nacht. Unter uns rauschte der Schwell durch die Felsengänge, das rhythmische Auf und Ab des Wassers hatte eine beruhigende Wirkung, wir kannten es so von der Brandung an der Küste unserer Insel und wo das Meer ist, ist auch das Leben und die Freiheit. Wir sprachen solche Gedanken aus und hielten uns gegenseitig wach. "Siehst Du auch die Lichter, etwas flackert dahinten!" Gregorio schob sich ächzend an der Steuerhauswand hoch. "Da ist ein Lichtschein, vielleicht ist da ein Schiff, wir bekommen Gesellschaft, Antonio!" - "Sieh ja keine Gespenster, da ist nichts!" - oder doch? Ein frischer Luftzug kam über das Vorschiff, es briste auf, und der Mond brach durch. Plötzlich war alles klar und hell, einige hundert Meter weiter fanden unsere Augen wirbelnd aufsteigende Nebel hochgezogen von flackernden Gasen. Schneller und schneller quollen die Gaswolken. Der Mondenschein reflektierte am Fuß der wirbelnden Säule einen sich drehenden, schäumenden Ringwall. Der Wind nahm zu, heftiger kamen die Böen über unsere Felsbarriere, und wir atmeten tief durch. Die frische Luft lies uns alles vergessen, das Leben ging weiter! Im Osten zog der Morgen auf.

Die erste Welle traf uns völlig unerwartet. Eine gewaltige Gaseruption schleuderte eine Gesteinsfontäne in die Höhe, dann lief die Woge auf uns zu. In der Ferne hob die Gesteinsfläche an, dann sackte sie ab, das Biegen, Bersten und Krachen näherte sich, die Felsen stiegen hoch und brachen ein, alles schien in Bewegung zu sein. Vor unseren Augen hob sich ganz langsam eine riesige Felsnadel in die Höhe und rutsche wieder in die Tiefe, als wenn eine mächtige Faust zugepackt hätte. Die Welle zog mit einem ohrenbetäubenden Krachen und Bersten unter uns durch und nahm den Felsen an Backbord mit in die Tiefe. Ein Abgrund tat sich auf, und unten gurgelte das Wasser. Gregorio fand erst nach langer Zeit die Fassung wieder. Wir hatten an Steuerbord in die Seereling gegriffen und hingen wohl stundenlang in verkrampfter Haltung aus Angst, eine Bewegung könnte das Boot zum Kippen bringen. Erst langsam nahmen wir den freien Blick über die Backbordseite wahr, und dort lag La Palma als Schatten in der Morgensonne. Im Westen jagte jetzt mit einem andauernden fauchenden Dröhnen die Gassäule in die Höhe und riss kleine Steine und wohl auch Wasser mit sich. "Wenn das noch mal passiert, sind wir verloren!" Gregorio sprach den Satz mehrmals wie ein Gebet, ganz ruhig und langsam. Seine Augen hatten sich an das seltsame wirbelnde Gebilde geheftet.

Ein Zittern durchlief das Schiff. "Das Wasser steigt, sieh mal, das Wasser steigt," schrie ich mitten durch seine monotonen Worte. "Gregorio, das Wasser steigt!" Er drehte sich langsam zu mir. Beherrscht ruhig kamen seine Worte: "Ich binde uns jetzt fest!" - "Wieso willst du uns festbinden, dass ist doch verrückt, nun sieh doch mal das Wasser steigt, wir können doch schwimmen, uns an irgendetwas festhalten..." - "Halts Maul! Hier steigt kein Wasser, der Berg sackt unter uns weg, willst du da schwimmen, was, wie.." Seine Stimme hatte etwas Scharfes: "Ich binde uns jetzt fest, und wenn dieses Schiff untergeht, dann gehen wir mit unter, und wenn es schwimmt, dann überleben wir - vielleicht". Er griff sich einen Tampen und schnitt ein Ende ab. "Hier, bind Dich fest und zwar an der Winsch, die hält, alles andere fliegt vielleicht weg, aber die Winsch hält, los mach schon!" Er hatte sich auch ein Ende abgeschnitten und drehte sich die Leine quer über die Brust und unter den Armen durch über die Schultern zurück "Mach das auch so, und beeil dich, ich denke wir liegen bald im Bach!"

Das Donnern der Gaseruptionen schnitt ihm die Worte ab. Der Lärm war in ein infernalisches Tosen übergegangen, und dann explodierte vielleicht dreihundert Meter von uns entfernt das Feld, wie wir es genannt hatten. Eine Wassersäule schoss in die Höhe und riss Schlamm und Gestein mit sich, dann sackte sie um eine Gassäule zusammen. Wieder wurden Wasser und Schlamm zu einem Wall hochgerissen, aus dem sich Schwell auf Schwell über die Ebene ergoss. An mehreren Stellen konnten wir jetzt Eruptionen ausmachen, die den Wasser und Schlammfluss durchbrachen. Die ganze Fläche war in Bewegung. Eine neue Eruption warf einen riesigen Wasserberg in die Höhe. Er zerplatzte und die Wassermassen ergossen sich über das Feld. Wir konnten nicht erkennen, wie sich unter dem Wasser eine Steinwelle aufbaute. Sie schlug so plötzlich zu, dass wir hochgeschleudert wurden. Ich krachte auf das Deck, Wasser begrub mich, und ich kann heute noch das Gefühl des Sterbens haben.

Antonio hielt inne und streckte seinen rechten Arm über den Tisch. Es war bereits dunkel. Draußen auf dem Ozean leuchteten die Lampen einiger Fischerboote. Stille lag über dem Land, ein Hund bellte. "Ihr solltet morgen weiter reden, es ist schon spät. Antonio regt das nur auf, er ist immer ganz krank, wenn er die Geschichte erzählt hat! Dann schläft er nicht!" Hortensia räumte den Tisch ab, Francisco gähnte anhaltend.

"Nein, das Ende der Geschichte kommt ja bald, ich will das heute noch erzählen," hob Antonio wieder an. Wir merkten sehr wohl, wie sichtlich mitgenommen der alte Mann war, aber die Erzählung hatte auch ihn gepackt.

"Der Schlag hatte Gregorio auch in die Höhe geworfen, aber er landete zufällig auf den Beinen und stürzte nach vorn. Er griff in die Winsch und krallte sich fest, während das Boot wie durch ein Wunder in tiefes Wasser fiel. Neben dem Boot glitt der Felsen in die Tiefe. In diesem Augenblick war das Wasser sehr ruhig, abwartend ruhig. Sekunden später rissen die Strömungen in meterhohen Wellen das Boot mit. Wieder wölbte sich ein Wasserberg aus der tosenden Oberfläche des Ozeans, dann verschwand er in der strudelnden und schäumenden Wasserwüste. Gregorio lachte schrill auf, er schrie seine Wut, seine Verwünschungen und Flüche über ein dreckiges Meer, dann brach er zusammen, hustete und wimmerte. Innerhalb weniger Minuten lief eine gleichmäßige Dünung wieder über die Tiefen.

Ich hatte mir den Arm gebrochen. Fast teilnahmslos betrachtete ich meine abgewinkelte Hand. "Hier, sieh mal, mein Arm, da stimmt wohl etwas nicht. Gregorio, sieh doch mal mein Arm ist gebrochen." Ich grinste Gregorio an und schob ihm mit der linken Hand den hängenden Arm entgegen. Schmerzen spürte ich nicht. Der Anblick schien sein Gemüt zu bewegen. Er stemmte sich ächzend auf die Knie und kroch zum Steuerhaus. Unter Deck schwappte Wasser, alles schwamm, das Schiff lag ziemlich tief. "Ich weiß nicht, ob wir ein Leck haben, vielleicht ist das auch alles durch die Luken rein gelaufen, auch scheißegal, noch schwimmen wir!" Ich hörte ihn wieder kramen und fluchen: "Verdammter Arm, wir müssen pumpen, was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist"! Gregorio humpelte zur Backskiste. Er hantierte mit einigen Belegnägeln, die er um meinen Arm bündelte und zusammenschnürte. "So, das muss reichen!" Gregorio, dieser derbe große Mann, streichelte meinen Kopf: "Da siehst du es, Antonio, du lebst. Das war alles nur ein böser Traum!"

Ich glaube, wir saßen stundenlang im Schatten des Steuerhauses. Wir warteten auf eine Art Rettung, jemand musste kommen und uns abschleppen. Unsere Gedanken waren völlig unrealistisch. Der Durst und der ständige Husten wurden zur Qual. Und allmählich kamen die Schmerzen.

Am Nachmittag drang das Brummen eines Flugzeuges in unsere Sinne. Es drehte einige Kurven, und wir versuchten zu johlen und zu winken. Wir hangelten uns auf dem Achterdeck hoch. Da kam das Flugzeug dicht an uns vorbei und jemand hob die Hand hinter der Scheibe rauf und runter. Die Erlösung gab uns Auftrieb. Gregorio versuchte, ein Netz zu bergen. Das Wasser hatte jetzt den Maschinenraum geflutet. Das Dingi war verschwunden!

Zwei Stunden später lag das Schnellboot der Marine querab. Befehle, Leute hantierten, mit uns geschah etwas - geborgen! Erst später wurde uns bewusst, dass wir völlig krank waren und auf uns selbst gestellt keine Überlebenschance hatten. Nach allem, was wir erlebten, nach allen diesen glücklichen Fügungen in völliger Aussichtslosigkeit, empfand ich unsere Rettung als einen selbstverständlichen Ausgang.

Antonio drehte sein Glas und schwieg vor sich hin. Auch wir teilten mit ihm die Ruhe.

"Ach ja, das Glas! Ich griff es als sie mich von Bord trugen. Es kullerte an der Seereling und meine Hand glitt daran vorbei, da griff ich zu. Und seht mal her" ... er hielt zwischen den Fingern einen kleinen Stein... "der Stein war in dem Glas."

Epilog

Die Erscheinung, nennen wir sie einfach so, wurde von vielen Menschen gesehen. Auf La Palma waren die Umrisse einer flachen Insel im Südwesten zu erkennen. Sie tauchte wie aus einem Nebel auf und verschwand nach wenigen Minuten nach und nach. Auf El Hierro war die Erscheinung durchaus spektakulär. Auf Höhe des Leuchtturms in nordwestlicher Richtung war für Stunden ein Nebelfeld zu beobachten, das in ständiger Bewegung zu sein schien. Fischer aus La Restinga waren nur einige Seemeilen entfernt und berichteten von dunklen Umrissen, die von Zeit zu Zeit aus den Nebelschwaden auftauchten und Felsen sein konnten. In Folge dieser Ereignisse wurde an dieser Stelle wiederholt eine Tiefe zwischen 250 und 350 Metern gemessen. Die Schwankungen sind beachtlich, und die Tiefe völlig ungewöhnlich! Nach den San Juan-Eruptionen im Jahr 1949 verschwand der Fischberg. Er ist vermutlich zusammengebrochen.


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Irgendwo da draußen, in Südwest



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