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Carlo         


DEM


              


VI. Teil Jacona

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit anderen Berichten oder Erzählungen ist rein zufällig. Gleiches gilt für die verwendeten Namen, Bezeichnungen, Techniken und geografischen Orte. - Texte und Bilder unterliegen dem Copyright


Er nannte sich Ernest. Angeblich kam er aus Europa. Ich hatte ihn in Boston kennen gelernt und versucht seine Methodik zu verstehen. Er definierte alle Erscheinungen entgegengesetzt, wobei er sich seltsame Alternativen einfallen lies. Ich entsinne mich an seinen auf den Kopf gestellten Mammutbaum, dessen Wurzelwerk aus einem tief im Boden verankerten Stamm in den Himmel wuchs. "Nur, weil wir es schon immer so gesehen haben muss es ja nicht wirklich so sein!" Er ließ Menschen kopfüber an der Decke laufen und behauptete, dass unser Gehirn uns das nur vorgaukele, dass sie auf der Erde stünden. In Wahrheit klebten sie über uns an der Erdoberfläche fest und konnten somit nicht zu uns in den Raum hinaustreiben. Und wir waren Beobachter, die keine Chance hatten, auf die Erdoberfläche zu gelangen, von der wir vehement abgestoßen wurden, je näher wir ihr kamen. Etwas in seinen Vorträgen hatte mich elektrisiert: Unser Bewusstsein ist nicht das Ergebnis von Aktionen in unserem Gehirn, sondern unser Bewusstsein rufe diese Aktionen hervor, um so zu sein.

Ich konnte nicht ahnen, wie diese Begegnung mein Leben ändern würde.

Es war Ende April. Ernest hatte mich vom Flughafen in Albuquerque abgeholt. Er erzählte aus seinem Leben, von einer kleinen Insel im Atlantik, auf der er das Licht der Welt erblickte. Über dem Highway flimmerte die Luft. Sein Truck war nicht neuesten Datums und die Klimaanlage spürbar überfordert. Große, sehnige Hände hingen in den Speichen des Lenkrades, warm und braungebrannt. Nicht gerade die typischen Hände eines Wissenschaftlers. Meine Augen verweilten an diesem Bild, dann ließ er das Lenkrad los und zog ein Knie hoch. Wir hatten Santa Fee hinter uns gelassen, und meine Empfindungen fanden sich in der Wirklichkeit wieder, die ich für eine ungewisse Dauer verloren hatte. "Wir fahren jetzt erst einmal zum Rio Grande. Ich mache dort einen Stopp, damit Du diesen berühmten Fluss begrüßen kannst!" Ernest lachte. "Du wirst dich wundern, er hat auf dich gewartet!"
Etwas abseits von der Brücke fanden wir zum Ufer. Ich versenkte mich in den träge fließenden, braunen Strom im tiefen Bett unter grünendem Buschwerk. Der Fluss ernährte seine lebendige Umgebung, nicht so mächtig wie die großen Ströme des Nordens; eher bescheiden hatte er sich aus den Bergen gewunden, hinaus auf die weite Hochebene brachte er Leben.
"Indianerland, der Fluss gehört den ursprünglichen Menschen dieses Landes. Sie haben eine Beziehung zum fließenden Wasser, die wir nicht empfinden, und selbst, wenn sie uns erklärt wird, können wir sie noch nicht einmal spüren und schon gar nicht erkennen." Ernest streckte seine Arme aus, dem Fluss entgegen und hielt sie ruhig. "Mach das auch so wie ich!" Wie von selbst, kein Gedanke an ein Für und Wider ließ mich innehalten, streckte ich meine Hände weit aus zum Wasser und verharrte schweigend neben diesem hoch gewachsenen Mann, den ich kaum kannte. "Der Fluss hat dich willkommen geheißen, jetzt können wir zurück fahren!" - "Ja!" Ich ließ die Arme sinken, dann stapfte ich hinter Ernest her zum Wagen. Ich folgte den Tritten staubigbrauner Füße in ledernen Sandalen. Sie zeichneten eine kurze Geschichte von einheimischem Handwerk und vielen Jahre täglichen Gebrauchs in meine Gedanken. Behände fanden seine muskulösen Beine festen Boden in einer bröckeligen Böschung. Ich blieb zurück und schnappte nach Luft. Etwas müde vom Flug kam ich in dieser Höhe schnell an meine sportlichen Grenzen. Da stand er schon, lachend an seinen Truck gelehnt, als ich die letzten Zweige des Gebüschs zur Seite schob: "Das ist der wilde Westen, ein bisschen anstrengend!" Ich hatte keine passende Antwort parat, wozu auch, der Mann gefiel mir.

Das Haus war ursprünglich alt, offensichtlich vor kurzem neu verschlemmt. Einige Lehmspritzer auf der Holzbank verrieten die fleißigen Hände. Eine hohe Adobewand zog die Grenze zwischen der staubigen Außenwelt und einem märchenhaften Garten. Irisgesäumte Wege wanden sich mit der Begleitung indianischer Skulpturen zu einem Nutzgarten, der im Hintergrund in den Schatten riesiger Pappeln verlief. Einige Hühner scharrten unbekümmert. Der hagere Hund hatte sich abwartend aus seiner Mulde in der Einfahrt erhoben; den Menschen zugewandt signalisierte sein Schwanz verhaltene Neugier. "Das ist Toto, der Perro, und das ist Paco und das ist Maria." Ich reichte den beiden die Hand. "Paco stammt von hier, er ist Indianer und ein begnadeter Mathematiker. Maria stammt aus Mexiko, sie spricht nur spanisch." Ernest hatte mich auf die beiden bereits eingestimmt. Ich sollte in ihrem Haus die paar Tage wohnen, und als ich so einfach vor ihnen stand, überkam mich das unwirkliche Gefühl, dies alles erleben zu sollen. Die Begegnung mit diesen Menschen war bereits in mir vorhanden bevor ich sie wahrnehmen konnte. Maria nahm mich spontan in die Arme und wiegte mich hin und her. Sie murmelte etwas von ‚bienvenido' und ‚machos', nahm meine Hand und zog mich in das Dunkel ihres Hauses, meine Tasche sollte Paco holen, verstand ich. Wundersame Kühle nahm mich auf. Ich hielt einige Sekunden den Atem an und folgte zögernd dem leichten Zug der Hand, die mich durch den großen Raum zu einer Tür führte, die eine Welt tiefer Geborgenheit eröffnete. Langsam, mit warmen Worten bedeutete mir Maria diesen Raum als mein Zuhause. Wundersame Holzarbeiten eines großen Künstlers kleideten den Raum aus und nahmen meine Blicke gefangen. Eingearbeitete Nischen in der Wand bargen die Schönheit indianischer Gefäße. Ich war entrückt und merkte kaum, wie Maria mich zu einer schmalen Tür neben dem Kopfende des Patchwork verdeckten Bettes zog. Mit einem strahlenden Lächeln wies sie mich an, einzutreten in den Zauber eines kleinen Bades, dessen Mitte eine Wannenmulde einnahm, ganzheitlich aus einem Holz geschnitzt mit naturpolierten glänzend glatten Rundungen. Maria zog einen weißen Bademantel aus dem Regal und breitete ihn aus, ein Handtuch folgte, und leise rann das Wasser in die Wanne. "Du wirst dich hier von deiner Reise erfrischen, dann werden wir im Garten zusammen essen, Ernest wird bei uns sein, und dies ist dein Haus", verstand ich ihre Worte und Gesten. Dann schloss sie die Tür hinter sich.

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Photos von Bernhard van Riel


Familie Ellen & Simon Märkle

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