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Carlo, San Borondón

Landgang - Nach Mitternacht


              

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit anderen Berichten oder Erzählungen ist rein zufällig. Gleiches gilt für die verwendeten Namen, Bezeichnungen, Techniken und geografischen Orte

Nach Mitternacht

Eine beklemmende Angst jagte in mir hoch, und ich raste den Flur entlang und stürzte die Treppe hinunter. Der Niederländer stand immer noch da und aß, und die Menschen liefen hin und her, aber sie wirkten plötzlich grau und schattenhaft. Ich rannte aus dem Einkaufzentrum hinaus. Die Landschaft zog an mir vorbei und über alles senkte sich ein grauer Nebel. "Um Gottes Willen, bloß weg hier ich muss, mein Boot erreichen, bevor dieser verdammte Nebel mich einholt"! Die Panik fegte mit mir die Straße hinab, der Wald war ergraut und verlor seine Konturen, ich fand die Stelle, wo der Weg zum Hafen die Strasse verließ und lief und lief - und da lag mein Kajak im aufwallenden Nebel. In letzter Sekunde hatte ich ihn gefunden und sprang aus dem flachen Wasser hinein.

"Wir haben ihn, hier ist er, alle hierher!" Ich hörte Stimmen aus dem Nebel, dann dröhnte etwas durch meinen Kopf und ich spürte nur noch, wie ich im Wasser versank.

Das Erwachen aus tiefer Bewusstlosigkeit ist wie ein Auftauchen aus großer Tiefe. Ich schoss nach oben, dem Licht zu. Dann erst schlug ich die Augen auf und betrachtete die weiße Decke im Licht der Kabinenlampe. "... da hast du ja noch einmal Glück gehabt, John" ging mir ein Gedanke quer, aber dann merkte ich, dass ich die Worte gehört hatte, und als ich den Kopf drehte, sah mich unser Doktor an. Ich lag in meiner Koje auf dem Begleitschiff."

"So, Leute, jetzt setzt euch wieder an den Tisch, es gibt eine Nachtsuppe für die erschöpften San Borondóner - oder wie soll ich euch nennen!?" Gru zog kurzerhand den Drehsessel mit John herum und komplimentierte ihn wieder an die festlich geschmückte Nachttafel. Was der Herbst im Lista-Land an Beeren und Blättern und Pflanzen zu bieten hatte, erlebte in der Mitte des Tisches seine farbenfrohe Krönung. Wir hatten es nicht gemerkt, aber die Uhr stand auf halb eins, und draußen heulte der Sturm. "Jetzt bewundert ihr erst einmal mein San Borondón und das ist ganz real. Sieh mal, John, da sitzt ein Troll und hier guckt der Nisse raus, er übt schon für Weihnachten!" Gru setzte die große Schüssel mit dampfender, scharfer Suppe an ihre Ecke und ließ sich die Teller anreichen. Bald bepusteten und schlürften wir die Vulkan-Suppe und löschten den Brand mit Bier. Nach einigen Rundskaals auf Gru und ihre Künste versanken wir wieder im Atlantik westlich der Insel La Palma.

"Ich habe die Wahrheit nie herausgefunden", begann John wieder, den Faden zu spinnen.
"Wir gingen in einem Hafen an der Westseite von La Palma an Land, und ich kam sofort unter ärztliche Aufsicht. Drei Tage später war ich zu Hause auf den Bermudas und völlig krank. Das war kein Kinderspiel, und ich habe mehr als ein Jahr gebraucht, um wieder seelisch auf die Beine zu kommen. Ich habe dann mein Leben total umgekrempelt und mich als Offschorer beworben, weil ich in dieser Welt nicht auf dumme Gedanken verfallen würde, und das ist auch so gekommen. Heute bin ich wieder ganz stabil." Er blickte etwas forschend und doch vergnügt in die Runde: "Skaal, skaal auf San Borondón!" - "Skaal", antworteten wir alle!

"Ich habe die Ereignisse von damals immer wieder durchgesprochen und mir erzählen lassen, wie die anderen mich fanden und aus dem Wasser zogen." John machte eine Pause. "Die Nebelwand baute sich schlagartig auf, und zwar in meinem Rücken. Das Wasser schäumte hoch. Ich habe das alles nicht mehr wahrgenommen. Meine beiden Gefährten sahen mich hinter der Nebelwand verschwinden, und der eine wollte mir folgen, schrie aber im letzten Moment auf: "Gas, Gas, hier kommt Gas hoch, weg hier, das perlt alles"! Er brachte es fertig, aus der Nebelwand zurückzusetzen und den Kajak zu wenden. In der Zwischenzeit war das Hauptfeld in der Nähe angekommen. Alle haben diesen Nebelberg auf dem Wasser gesehen. Mein Mitsegler hing über seinem Kajak und hustete. "Da kann keiner überleben", keuchte er den anderen zu. "Los, holt Hilfe, die sollen Tauchmasken und Flaschen mitbringen!" Dann brach er zusammen. Das Beiboot war Minuten später mit zwei Tauchern da. Wie sich später ergab, hatte der Skipper rechtzeitig die sich anbahnende Katastrophe erkannt und aus einer göttlichen Eingebung, wie er immer wieder betonte, sofort gehandelt. Die Fahrt des Beiboots in den Nebel muss ein Höllenritt gewesen sein. Einige Male waren sie vor dem Kentern oder Sinken, die Lenzpumpe lief ständig, das Wasser tanzte und schäumte. In diesem Chaos liefen sie zufällig auf meinen Kajak, zufällig, weil die Sicht gleich Null gewesen sein muss. Trotz des tanzenden Bootes, trotz der schweren Flaschen konnten sie mich in das Beiboot zerren und dem Nebel irgendwo entrinnen. Einige hundert Meter entfernt trieb die Kajakflotte. Mein Retter riss sich die Maske vom Gesicht und winkte: "Wir haben ihn" schrie er, "alle hier her!" Dann fiel er in sich zusammen und krachte in das Boot.

Ich habe von all' dem erst viel später erfahren. Alle, die mit dem Nebel in Berührung kamen, waren für lange Zeit krank, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch." John machte eine Pause und blickte für Sekunden vor sich hin. "Ja, so war das wohl damals!"

"Wisst ihr was" nahm Gru das Gespräch wieder auf, "ich glaube, dass John den Aufenthalt auf San Borondón wirklich erlebt hat, und zwar gibt es für mich einen Beweis. Du kannst dich doch noch gut an Spencer erinnern, Chris, wie er in seinem Dingi stand!? Wie sah er aus, was hatte er an? Genau die gleiche Kleidung, wie John sie an den beiden Männern gesehen hat - weites weißes Hemd und hautenge Kniebundhosen!" - "Ja, schon! Aber Spencer war wirklich, und Johns Leute - na ja, das waren Wahnvorstellungen." Chris ließ den Satz immer leiser werdend ausklingen, als merke er, wie er den Faden verlor. "Was sagst du - du als Wissenschaftler musst eine Antwort haben!" Chris bohrte mir die Frage regelrecht in die Stirn. "Als Wissenschaftler habe ich keine Antwort, das muss alles reproduzierbar sein, das wisst ihr doch und mit Vermutungen gebe ich mich hier nicht ab, aber als Erzähler von Geschichten halte ich John's Erzählung für sehr wirklich. Ich vermute, dass er, wie Spencer immer wieder betonte, aus der Gaseruption in eine andere Zeit gerettet wurde, in der er sich in der Projektion einer anderen Realität aufhielt. Erst als die Rettung nahte, wurde er aus dieser Scheinwelt entlassen. Wie anders hätte er überleben können?! Er war viel zu lange in der Gaswolke!"
Wir tranken still unseren Nachtkaffee in der warmen Ofenecke. Der Sturm war abgeflaut.

Ende


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