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Carlo         


DEM


              


XVIII. Teil, Birigoyo eine kurze Zeit danach

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit anderen Berichten oder Erzählungen ist rein zufällig. Gleiches gilt für die verwendeten Namen, Bezeichnungen, Techniken und geografischen Orte. - Texte und Bilder unterliegen dem Copyright


Als ob der Wagen von selbst seinen Weg fand, so griffen seine Lichter nach den Kurven, wieder und wieder, rechts und links, hinauf in die Berge. Gleich oberhalb des Labor-Parks verlief der schmale, alte Weg zu einem Hochtal zwischen den beiden Gebirgen; das eine zum Süden, das andere zum Norden teilten sie die Insel in Ost und West. Hier oben am Anfang der weit nach Süden reichenden Vulkankette ragte ein Aschekegel in den Himmel, auf dem ich so manche Stunde verbrachte; zuweilen erst in der Dunkelheit verließ ich die Nähe zum All. Das stumme Ocom lag auf dem Sitz neben mir. Ich hatte es gewusst, aber erst als ich die Leere vernahm, wurde ich dessen gewahr. Dieses Leben war entwichen. DEM hatte mich verlassen! Zum ersten Mal in all den Jahren überfiel mich eine unbändige Sehnsucht, und alles in mir verlangte nach dem Gefühl der Verbundenheit. Nur für eine kurze Zeit hatte ich mich in mein Quartier begeben, dann brach der Verlust zu mir durch, und ich rannte hinaus in die Nacht, sprang in den Wagen, hinauf, dort wo wir eins waren, wollte ich ihn vielleicht noch einmal finden.
Der Sternenhimmel überbot sich selbst mit seiner Pracht. Ich brauchte die Lampe nicht. Wie oft war ich in den vergangenen Monaten den schmalen Grat hinaufgestiegen. Nach Osten hin hatten sich Wolken versammelt, sie lagen abschirmend über der Arbeitswelt dort unten. Vor dem Nachthimmel im Norden kamen jetzt die Bergspitzen des Kraterwalls hoch, über dessen Flanken mein Blick nach Westen abglitt, die Täler mit ihren fernen kleinen Lichtern fand und dann in der Weite des Ozean verweilte. Schritt für Schritt stapfte ich nach oben, weiter und weiter wurde der Himmel, näher und näher wähnte ich mich einer Einheit mit der Welt.

Es war etwas kalt hier oben. Gott sei Dank regte sich kein Lüftchen. Ich setzte mich mit dem Blick nach Südwest an den Gipfelstein und schnappte nach Luft. Das Tempo war wohl etwas zu anspruchsvoll gewesen. Ich wurde ruhiger und konzentrierte mich auf ein gleichmäßiges Atmen. Ich sollte jetzt meine Jacke anziehen und etwas trinken. Fast störend wirkte das Hantieren mit meinem Rucksack in der entrückten Stille auf dem Gipfel. Mich durchfuhr ein Gedanke: "Da siehst du mal wie du funktionierst" - ich sprach es aus, ich stellte es fest mit einer wertfreien Erkenntnis - "als Bewusstseins-Teilchen in diesem grandiosen Gebilde, auch gut!" Und bei den letzten Worten musste ich eine kleine Freude mit einem in mich gekehrten Lächeln bemerken - was hatte DEM immer wieder zu meinen Meinungen geäußert - eben, ‚auch gut' - vermeintliche Gegensätze sind so lange da, wie ein Ganzes nicht erkannt wird. Ich nahm einen ordentlichen Schluck aus der Plastikflasche, verschraubte mit dem Gefühl der komplexen Handlung den Verschluss, ich merkte, wie ich wieder zur mir selbst fand und fast beglückt flüsterte ich in die Weite: "Der Mensch ist für dergleichen nicht geeignet! Die Welt hat ihn als beschützte, universale Zelle gebaut, welch ein Geschenk!" Ich atmete tief ein, hier oben sucht der Luftstrom merkbar im Inneren die letzten Verzweigungen auf, die Reinheit tut gut - ein Wasserwesen in einem Luftmeer, engste Verbundenheit! Ich streckte den Arm aus und lies die Hand langsam durch die Luft ziehen, meine Luft, aller Luft!

‚War das ein Licht da unten ?' Kurzzeitig hatte es zwischen den Bäumen geflackert. 'Da - wieder, da fährt ein Wagen! Noch ein Frühaufsteher!' Seine Anwesenheit störte mich. Ich versuchte im Südwesten Regulus ausfindig zu machen. Um diese Uhrzeit müsste er mir die Position von San Borondón zeigen. Ich fand ihn noch deutlich über dem Horizont und suchte das Wasser in meine Richtung ab. Vielleicht zeigte sich dort ein Berg oder ein Feuerwerk, vielleicht auch tauchte die große Kugel auf. Ich blickte in die Sternenpracht des palmerischen Nachthimmels, im Südwesten lösten sich die Sterne auf.

Das Geräusch war so unmittelbar und ließ mich zusammenfahren. Stille! Ich horchte in die Tiefe. Da war es wieder, aber es kam von der anderen Seite. Ich drehte mich um und gewahrte einen huschenden Schatten über der Gipfelkuppe, und noch ehe ich begreifen konnte, schoss das dunkle Etwas auf mich zu. Ich sprang hoch und zurück hinter den Gipfelstein, und da war es bei mir - freudiger Stolz überströmte mich sekundenschnell: "Ach, Belloco, du Kerl, du verrücktes Biest, was hast du mir für einen Schreck eingejagt!" Ich vergrub meine Hände in den zotteligen Pelz, um der Begrüßung etwas entgegenzusetzen, und ein begeistertes Bellen weckte wohl alle vulkanischen Geister. "Wo ist denn Ernesto, sag'mal, was macht ihr hier?!" Belloco sprang zurück in die Dunkelheit zum Grat und kam wieder zurück, aufgeregt ging sein Atem, und ich folgte ihm. Noch recht weit unten am Anfang des Gipfelweges schwankte ein Licht.

"Wir konnten - dich doch hier oben nicht allein lassen!" Nach Atem ringend stieß Ernesto die Worte halb flüsternd hervor, als er an mir vorbei stapfte. Er ließ seinen Rucksack an den Gipfelstein fallen und warf sich daneben. Ich ging langsam zu ihm. Belloco sprang zwischen uns hin und her. Ich setzte mich wieder neben ihn an meine Stelle und wartete. Sein Atem wurde gleichmäßiger. Wir blickten nach Südwesten. "Als Steven mich weckte, war mir sofort klar, was passieren würde, und als ich auf dem Weg zum Leitstand deinen leeren Parkplatz sah, drehte ich um, stopfte den Rucksack voll, und hier bin ich!" Ernesto stemmte sich hoch und griff in den Rucksack. "Hier, das ist ein Schlafsack für dich - nimm 'mal! Es wird zum Morgen hin kalt!" Ich zögerte keinen Augenblick und kroch in die weiche Wärme. "Woher wusstest du, dass ich hier oben bin?" Die Frage war überflüssig, aber ich wollte die Antwort hören! "Nun ja, weil ich an dich denke!"

Wir waren in einer stummen Zweisamkeit verbunden; zweifelsohne an einem Schauplatz der besonderen Art, vermischten sich Wissen und Gefühl zu einem Anteilnehmen, das wir gemeinsam empfanden. Jahre währende angestrengte Zusammenarbeit in Grenzbereichen des Vorstellungsvermögens hatte die gleichzeitige nicht mehr kommunizierbare Erkenntnisfähigkeit zweier Menschen entwickelt. Dem extrem kurzzeitigen beiderseitigen Wissensinhalt folgt die Leere, in die nur zögerlich oberflächliches Bewusstsein des Einzelnen zurückkehrt. Aber wir hatten das Wesen San Borondón erfahren!

Ernesto bewegte sich zuerst. Seit wir hier auf La Palma zusammenarbeiteten hatte ich ihn Ernesto genannt, wie alle anderen es auch zu tun pflegten. Obwohl die englischsprachige Umgebung unseren Alltag prägte, fanden sich doch zunehmend neue gemeinsame Freunde ein, die mich mit Spanisch konfrontierten, und in diesem Umfeld war ich ein anderer Mensch, es gefiel mir, hier zu leben.
"Es ergibt sich für mich kein Ansatz, seine Selbstdarstellung zu erklären, warum sollte er menschenähnlich erscheinen", Ernesto reckte sich hoch," hat er dir jemals einen Hinweis gegeben, warum er sich so verhielt?!
Ich schwieg, ich verkroch mich in meine Einfachheit und sann dem Gefühl in mir nach, aber dann hörte ich den heraufstrebenden Gedanken: "Es liegt an in der Unteilbarkeit des Lebens und damit des Bewusstseins. Er wollte aus dem Trugschluss individueller Wahrnehmung herausführen."
"Aber wir hätten die San Borondón auch ohne sein Erscheinen gebaut. Er beherrschte die Zusammenhänge lange bevor er auftauchte. Das ganze Netz der Akteure war nach unserem Wissen als sich selbst entwickelnd vorhanden, wir hätten nie einen DEM wahrgenommen." " Und wie willst du erklären, was jetzt wahrscheinlich passieren wird?"
"Ich kann es erklären, es ist nachvollziehbar, es ist gesetzlich - es beinhaltet DEM!"
"Eben nicht, eine Lebensentscheidung entzieht sich deiner Wahrnehmung! Du hast keine Antwort auf das Warum!"

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Photos von Bernhard van Riel


Familie Ellen & Simon Märkle

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