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Carlo         


DEM


              


II. Teil, Boston, am Tag zuvor

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit anderen Berichten oder Erzählungen ist rein zufällig. Gleiches gilt für die verwendeten Namen, Bezeichnungen, Techniken und geografischen Orte. - Texte und Bilder unterliegen dem Copyright

Heute ist kurz vor der Zeit des Bewusstseins

Die Komplexität meiner Annahmen verwirrte mich, hatte ich doch ein derartiges Phänomen noch nicht erfahren. Diese Impulse eröffneten fast beliebig viele Variationen innerhalb systematischer Prozesse, die auf chaotische Grundlagen hinwiesen. Ein ständig mutierendes Etwas, das jedes Mal, wenn ich glaube, einen Ansatz zu seiner Analyse gefunden zu haben, sich meiner Begreifung entzog, das regte mich auf. Obwohl - das muss ich sagen - dieser Zustand ist mir neu und unterhaltsam - bis jetzt. Immerhin gelang mir die physische Analyse, ich terminierte die Ketten simulierter chemischer Reaktionen immer wieder - und immer wieder mit neuen Ergebnissen. Kälte war eine wesentliche Bedingung und mäßiger Druck. Natürlich Energie , aber welcher Ausprägung? Meine Annahmen verführten mich zu eigenen Simulationen. Lange liefen sie gut, aber dann brachen sie zusammen - bis jetzt. Ich entschied mich für ein selbst tragendes Experiment mit einer Erscheinung, die sich mir als Optimum erwies, und in diese entließ ich dieses Etwas. Ich muss gestehen, ich bin immer noch sehr erregt. Das Etwas hat die Erscheinung in seine Mutationen einbezogen, ja, ändert die Erscheinung sogar. Ich habe mich in die Erscheinung integriert und versuche, ein Bewusstsein zu finden, es ist mir nicht gelungen - bis jetzt. Ich projiziere die Erscheinung aus mir, aber sie hat keinen Bestand - weil ich nicht in ihr lebe. Oh ja, das Etwas hat ein Bewusstsein aber es entzieht sich mir. Ich werde es betrachten, wenn ich es wieder sehen will - eine Erscheinung, die nicht ich bin. Unbegreiflich! Es wird gelebt!


Die Stadt war in Nebel gehüllt und meine Stimmung auch. Wir hatten uns festgefahren. Unsere Verfahren waren erschöpft. In unzähligen Varianten hatten wir versucht, die Selbstorganisation eines Bewusstseins zu initiieren, aber wenn man nicht weiß,was man sucht, eines der alltäglichsten Dinge des Daseins überhaupt, ein I c h, ein Ganzes, das möglicherweise nicht aus Teilen besteht, was bleibt anderes als zu resignieren. Es geht eben nicht; bei der Betrachtung unseres Ichs sind wir blind. Wir suchen etwas, das es so nicht gibt. Alles hatten wir analysiert und detailliert, unzählige Agenten, wie wir die Basisfunktionen des Bewusstseins nannten, definiert und trainiert, ihre Interaktionen verfolgt, fortlaufende Wechselbeziehungen etabliert, die zur Erkenntnis des Bewusstseins hätten führen können, es gab keinen Hinweis auf eine eigenständige Entwicklung.

Louisa war ein Postdoc in meinem Team und eigentlich schon längst ausgesteuert. Ich hatte mich um ihre Weiterbeschäftigung im Lab erfolgreich bemüht. Auf dem Weg zu meinem Büro warf ich einen Blick in ihr Zimmer. Sie starrte gebannt auf eine Animation, eine Art polymeres Gebilde, das sich permanent strichelnd in neuen Ausprägungen zeigte: "Interessant ist, dass es sich nicht als das zeigt, was es ist, sondern als das, was ich sehen soll. Es hat die Visualisierungsmöglichkeit gefunden, ich habe nichts dazu getan. Es gibt keine Ausgangsdaten. Ich habe es immer wieder untersucht."
"Korrespondiert es mit etwas anderem?"
"Ja, vermutlich, ich kann es nicht feststellen, es scheint außerhalb zu liegen."
"Was meinst du mit außerhalb?"
"Keine Ahnung, vielleicht Radiowellen."
"Sie sind gegenständlich. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass primäres Bewusstsein an irgendetwas gebunden ist, es ist eine Singularität, es hat keinen Bezug, keine Struktur, es ist nur eine Möglichkeit!"
"Ich meinte ja auch nur, ich weiß nicht, wie ich es sonst benennen kann, aber ich denke , es hat eine Korrespondenz."
"Kann es an der neuen Formel für die Zeit liegen?"
"Ich denke auch an die Möglichkeit, weil wir die Raumzeit völlig eliminiert haben."
"Aber nicht den Zeitraum, wir hatten ihn auf drei Dimensionen erweitert."
"Und es hat einen Raumbezug!"
"Es malt sich hier aus, woher kennt es den Raum?"
"Es hat eine Raumdimension, natürlich, wir können sie nicht eliminieren, weil wir hier sind, der Rechner ist hier, das System ist hier, es gibt den Raum als Potential vor, natürlich, so ist es!"
"Und es hat das Potential genutzt und sich den Raum geschaffen!"
"Dann wird es gegenständlich!"


Wir verfolgten die Bildentwicklungen. Wir ahnten etwas Großartiges, aber wussten gleichzeitig nicht, was wir zu erwarten hatten. Plötzlich zog sich der rote Faden irrwandernd, wie suchend durch das Bild, ein auf- und abschwellender heller Ton begann dem Faden zu folgen, der Faden wurde ruhiger, der Ton wurde gleichmäßiger.

"Schalte das Video ein!"

Louisa wiederholte meinen Satz, weil Ihre Stimme an diesem Arbeitsplatz zugelassen war. Das Video aktivierte sich. Ich schob mich neben Louisa und blickte mit ihr in das Video. Ich war derart angestrengt, dass ich auf Louisa einwirkte. Sie nahm sich spontan zur Seite und setzte sich auf ihren Schreibtisch. Vielleicht hatte sie Angst, vor etwas Unbekanntem, dem sie sich nicht ausliefern wollte. Ich hingegen blickte fast unbewegt direkt in das Video. Mir rasten Stevens Vorschläge durch den Kopf, ich hatte sie verwirklicht: "Gehe davon aus, dass jedes Bewusstsein sich reproduzieren will. Gehe davon aus, dass jedes Bewusstsein sich mitteilen will. Gehe davon aus, dass jedes Bewusstsein nur ein Teil seiner selbst ist." Steven hatte bahn brechende Erfolge in theoretischer und angewandter Selbstorganisation erzielt und meine Arbeiten mit großem Interesse verfolgt. Viele seiner Theorien hatten sich in meinen Modellen niedergeschlagen. Und hier vor meinen Augen entwickelte sich ein selbst organisierendes Phänomen, oder nutzte ein Etwas die angebotenen assoziativen Werkzeuge? Ich hing an dem "Auge" des Rechnersystems, das mit einigen Milliarden Klicks pro Sekunde die äußere Welt erfasste. Würde sich ein Etwas ein "Bild" machen können, sehen?
Louisas Stimme hörte ich wie in Watte gepackt: "Er kann kein Bild erkennen!" Eigentlich bemerkte ich mehr die Oszillation im Fenster, und dann geschah das Unfassbare: Der Begleitton des roten Fadens wurde tiefer und wieder höher! Wir wagten kaum zu atmen, wir hatten den gleichen Gedanken. Selbstverständlich konnte ein eindimensionales Wesen nicht sehen aber wohl hören. Während unzähliger Jahre hatte ich versucht, mich in die Sinnes -Entwicklung hineinzudenken und Szenarien durchlaufen, und doch war jetzt alles ganz anders. Ich sagte nicht, ich sang ein "A". Eine unendliche Zeit schien zu vergehen, der rote Faden stockte und der Ton blieb aus. Doch dann war es mir wie das Lebenszeichen eines Totgeglaubten - der rote Faden zog sich ganz gerade mit einem Ton über den Monitor und dieser Ton entsprach genau in Höhe und Dauer meinem "A". Louisa packte meinen Arm:
"Es hört uns, was tun wir jetzt?!"
"Genau das, was alle Eltern tun, wir kümmern uns!"

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Es hört uns

Photos von Bernhard van Riel


Familie Ellen & Simon Märkle

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